Die Glocken der katholischen St. Ludgerus-Kirche in Weseke
Eigentlich hat Josef Benning im Laufe der Jahre als Redakteur für die Weseker Heimatblätter nicht mehr viel Berichtenswertes aus der Dorfgeschichte über alteingesessene Familien, Höfe oder Bauwerke unbearbeitet und unveröffentlicht gelassen. Seine auf dieser Internetseite für jedermann abrufbaren und nach Stichwörtern durchsuchbaren Beiträge nutzen vermehrt auch Menschen, die etwas über aus Weseke stammende Vorfahren herausfinden wollen. Kommt dazu Interesse an geschichtlichen Zusammenhängen und Arbeit mit Quellen aus alten Archiven, also Detektivarbeit in Sachen Vergangenheit, sind manchmal Ergänzungen oder sogar bisher Unbekanntes das Ergebnis.
Frank Geradts aus Drachten in den Niederlanden hat Spaß an solchen Recherchen und lässt uns an seinen Arbeitsergebnissen teilhaben.
Die Weseker Kirche gehört zu den Wahrzeichen des Dorfes, ihre Glocken sind weit zu hören und helfen auch heute noch, die Tageszeit zu bestimmen. Schon in den Heimatblättern Nr. 55 bis 58 wurde über die Glockengeschichte berichtet.
Frank Geradts hat jetzt Ergänzungen dazu beigetragen mit besonderem Blick auf die Person des damaligen Glockengießers Christian Wilhelm Voigt.
Hier seine Ausführungen:
„Es geht um die alte St. Ludgerus Kirche, in der die kleine Glocke 1776 ausgetauscht werden sollte. Dieser Auftrag wurde seinerzeit dem Glockengießer Christian Wilhelm Voigt, Nachkomme einer Glockengießerfamilie, die in Dremmen bei Heinsberg sesshaft war, erteilt. Christian Wilhelm Voigt, der als evangelischer Christ 45 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1779, mit der katholischen Tochter des Küsters der St. Lambert Kirche in Dremmen, Maria Reinartz, verheiratet war, war damals mit mehr als 50 gegossenen Glocken einer der bedeutendsten Glockengießer im deutsch-niederländischen Grenzraum. Am 14. August 1776 wurde Voigt in Weseke mit dem Gießen der kleinen Glocke beauftragt. Der Kirchenmeister Johann Bernhard Vornholt achtete sehr auf den Gewichtsverlust während des Umgießens, denn in einem früheren Auftrag in Heerde hatte Voigt schriftlich angegeben, dass der Gewichtsverlust nicht mehr als 5 % betragen würde. In Weseke wollte er diesen allerdings auf 10 % festlegen, was jedoch nicht akzeptiert wurde. Voigt war anschließend mit seinem Verkaufsgespräch in Ramsdorf offenbar überzeugend, da er am 18. Oktober 1776 beauftragt wurde, zwei Glocken der St. Walburga Kirche umzugießen. Der Glockengießer Voigt übte damals seinen Betrieb als Wandergewerbe aus und musste somit auf Wanderschaft gehen, um sein Produkt zu verkaufen. Er hatte also keine feste Gießerei und goss daher die Glocken in der Nähe einer Kirche, um den Transportweg der schweren Glocken so kurz wie möglich zu halten. Wahrscheinlich wusste er schon in Weseke, dass er auch den Auftrag für Ramsdorf bekommen würde, denn als Arbeitsort für die kleine Glocke wählte er einen Standort am Südlohner Diek (Süütlöönsken Diik), fast 4 km Luftlinie von beiden Kirchen entfernt, der sich für den Bau eines Ofens und das Gießen der Glocken in einer „Klokkenkuhle“ eignete. In dem Vertrag mit dem Kirchenmeister Vornholt wird als Standort erwähnt: „…bei Johan Berndt Schlüters Haus“. Von August Heselhaus wird der Standort am Südlohner Diek in „Unsere Heimat 1959“ (Jahrbuch des Landkreises Borken) beschrieben als: „Längstens 500 m vor der Wirtschaft Schütte in Holthausen liegt hart westlich des Südlohner Diekes [….] ein Stück Wildgrund dem Bauern Trepmann zu eigen.“ Dank Herrn Ulrich Söbbing, Archivar des Gemeindearchivs Südlohn, wurde die Klokkenkuhle im Flurnamenbuch von Velen geographisch lokalisiert.
Eine Glockengrube oder Dammgrube als Glockengussanlage ist eine Grube mit durchschnittlich den folgenden Maßen: 5-6m lang, 2-3 m breit und 1,5-2,5 m tief je nach Höhe der zu gießenden Glocke mit einem Bronzeschmelzofen über der Grube und mit einer Feuergasse von 2,5-5 m Länge und 0,4-0,5 m Breite. Die Gussarbeiten der kleinen Glocke von Weseke wurden am 12. Oktober 1776, 59 Tage nach Vergeben des Auftrags, beendet und am 16. Oktober 1776 fasste der Rat von Ramsdorf den Beschluss die beiden schadhaften Glocken umgießen zu lassen. Beide Aufträge ließen sich in der Tat gut miteinander verbinden. Während der Arbeiten kam Voigt im nahe gelegenen Hofe des Zellers Garvert für 11 Stüber pro Nacht unter. Er wurde bei der Arbeit von zwei Hilfskräften unterstützt: Jan Berndt Schlüters (für 12 Stüber pro Tag), der auf der anderen Seite des Dieks wohnte, und Jan Gerdt Dieks (für 15 Stüber pro Tag), ein Nachbar von Bauer Vornholt. Wahrscheinlich haben sogar noch mehr Bewohner von Weseke beim Gießen der kleinen Kirchenglocke geholfen. Die Materialien, die für das Gussverfahren benötigt wurden, wurden oft vor Ort geliefert. Zum Beispiel geht aus einem Auftrag eines anderen Glockengießers hervor, dass man zum Gießen einer Glocke die folgenden Materialien benötigte: 200 Eier, 3,5 Pfund Wachs, Ziegelsteine, Holz (für die Weseker und Ramsdorfer Glocken waren es 20 Fuhren Holz für den Gegenwert von 22 Talern), 17 Pfund Talg, Eisenwerk, Buchstaben für die Glocke und Lehm. Um den Lehm stabiler zu machen, musste er mit Seil und Hanf vermischt werden und um dem Schrumpfen entgegenzuwirken, musste zusätzlich noch Pferdemist beigemischt werden. Schließlich erhielten die Arbeiter während der Gussarbeiten noch eine Kanne Schnaps. Da die flüssige Glockenbronze beim Gießen großen Druck auf die Form ausübt, wird die Glockenform nach allen Vorarbeiten mit fest gestampfter Erde in den Glockengraben eingegraben. Das Gießen einer Glocke erfolgte in der Regel nur einmal im Leben und fand daher großes Interesse bei den Einheimischen, die Silbermünzen in den heißen Metallstrom warfen, in dem Glauben, dass dies dem Klang der Glocke zugutekäme. Abends wurde die Klokkenkuhle oft bewacht, weil es auch Menschen mit minderwertigen Absichten gab. Bevor die heiße Bronze (1100 -1400 °C) durch die Feuergasse in die Glockenform floss, betete der Glockengießer stets für einen guten Verlauf. „Soll das Werk der Meister loben, doch der Segen kommt von oben“.
Der Auftrag wurde in der Regel unter der Bedingung erteilt, dass im Falle einer gesprungenen oder verzogenen Glocke der Glockengießer diese auf eigene Kosten neu gießen müsse, was die Arbeit von Wochen für nichtig erklären würde. Es wurde eine Beschreibung gefunden, die den Zeitpunkt des Gießens treffend angibt: „Die heiße Bronze bahnt sich ihren Weg durch die Rinne, zischend, blubbernd und knurrend. Wenige Augenblicke, nachdem die Bronze in die Form gelaufen ist, sprühen meterhohe Flammen in allen möglichen Farben aus den Luftlöchern. Dann lassen die Geräusche im Untergrund nach, und schließlich stellt sich eine tödliche Stille ein“.
Nach Übergabe der kleinen Glocke für die St. Ludgerus Kirche begann Voigt mit den beiden Glocken für Ramsdorf. Die Übergabe sollte am 24.März 1777 „vor den Toren“ stattfinden, sodass die Glocken zu Ostern 1777 bereits läuten konnten. Dafür war an sich genügend Zeit, aber Voigt erlitt einen großen Rückschlag: „Im Winter machte ihm das viele Wasser große Probleme. Aus diesem Grund hatte er sich vom Landrichter von Gemen und dem Herrn Rentmeister große Pumpen geliehen“.
Wenn die glühende Bronze mit einer feuchten Form in Berührung kommt, entsteht sehr viel Dampf, was dazu führt, dass die Form sozusagen „explodiert“. Eine trockene Klokkenkuhle ist daher ein absolutes Muss. Zusätzlich musste noch weiteres Metall gekauft werden: rotes Kupfer ausBorken und Zinn aus Amsterdam, das per Schiff nach Deventer und dann per Wagen zum Diek transportiert wurde. Die Ramsdorfer Glocken wurden jedoch pünktlich geliefert.
Nach dem Glockenguss in 1777 wurden der Ofen und die Feuergasse abgerissen und die Grube wieder mit Steinen und Erde verschlossen: das Ebnen der Klokkenkuhle.
August Heselhaus setzt seine Beschreibung dieses Ortes in 1959 am Süütlöönsken Diik fort mit: „Sogar in der trockenen Jahreszeit fällt dort, aufgrund der vielen Wasserpflanzen und Weidenbäume, die kleine Vertiefung auf; im Winter ist dort sogar eine Schlitterpartie möglich. Es handelt sich bei diesem stillen Ort eigentlich um nichts Besonderes, wenn nicht die Bezeichnung „Klokkenkuhle“ auf ihm ruhen würde.“
Eine Kirchenglocke hat normalerweise eine lange Lebensdauer, aber in Ramsdorf mussten bereits 1910 zwei Glocken aufgrund von Mängeln umgegossen werden. Die Firma Petit & Gebr. Edelbrock untersuchte die Glocken der Pfarrkirche in Ramsdorf und kam zu folgendem eindeutigen Urteil: „Die beiden größten Glocken wurden im Jahre 1776 von einem sehr minderwertigen Meister gegossen und befinden sich deshalb in einem äußerst schlechten Zustand. Die mittlere Glocke hat zudem einen Sprung und ist daher unbrauchbar. Die größte Glockezeigt am Rand schwere Mängel, die im Laufe der Zeit immer größer geworden sind und garantiert in kürzester Zeit dazu führen, dass die Glocke komplett unbrauchbar wird und weitere Benützung für den Glöckner unter Umständen mit Lebensgefahr verbunden war.“ Petit & Edelbrock fuhren fort: „Der Klang dieser beiden Glocken harmoniert nicht miteinander […] ein gleichzeitiges, harmonisches Läuten dieser Glocken ist daher unmöglich und wird auch nicht gehandhabt”.
Petit & Gebr. Edelbrock wiesen auch darauf hin, dass das Gewicht von zwei Glocken deutlich abweicht. Glocke 1 : Gewicht 1.009 kg statt 1.015 kg und Glocke 2 : Gewicht 582 kg statt 825 kg.
Als ob dies noch nicht genug wäre, setzte sich die negative Einschätzung der Fähigkeiten von Christian Wilhelm Voigt fort: “… dass die [mittlere] Glocke bei ihrer Anfertigung total missraten ist und die Wandungen viel zu dünn wurden, woraus der miserable Kesselton zu erklären ist”. Warum diese kritischen Bemerkungen gegenüber einem Glockengießer, der vor mehr als 130 Jahren gestorben war? Hat man Petit ebenfalls den Auftrag für das Umgießen in Ramsdorf in 1776 angeboten, ihm diesen aber nicht erteilt? Dass es sich um ein konkurrierendes Arbeitsfeld handelte, zeigt der nächste Vorfall, der in 1781 geschah. Alexius Petit, damals noch in „Enthofen in der Meieren Herzogenbusch“ lebend, hatte im Juni 1781 die Glocken für die Stadt Duisburg gegossen. Christian und Johannes Rutgerus Voigt beschwerten sich beim Bürgermeister und dem Pastor von Orsoy und auch in Emmerich bei der Majestät dem König, dass einem holländischen Glockengießer der Auftrag zum Umgießen der großen Kirchenglocke in Orsoy erteilt worden war. Dieses war, wie bereits erwähnt, für Ausländer verboten. Die Brüder Voigt bekamen in diesem Fall kein Recht. Der in 1720 geborene Alexius Petit, der mit seiner Frau Maria Slex 14 Kinder hatte, erhielt leider aufgrund seiner misslungenen Glockenspiele in Goes (1763) und Nijkerk (1775) einen sehr schlechten Ruf, der letztendlich für seinen finanziellen Ruin sorgte, wodurch er 1777 Konkurs anmelden musste. Danach hatte er bis zuseinem Tod in 1801 ständig Geldsorgen und war daher sehr am Auftrag der Stadt Duisburg interessiert, an dem er gemeinsam mit seinem Sohn Alexius jr. arbeitete. Im Jahr 1836, dem Jahr, in dem er das siebzigste Lebensjahr vollendet hatte, beteiligte Alexius jr. aufgrund einer kinderlosen Ehe die Neffen seiner Frau, Joseph und Wilhelm Edelbrock, am Glockenguss, woraus letztendlich die Gießerei Petit & Gebr. Edelbrock hervorging. In 1875 mussten zwei gerissene Glocken der St. Ludgerus Kirche in Weseke ausgetauscht werden. Ob es sich dabei auch um die kleine Glocke von Voigt handelte, ist nicht bekannt. Die Firma Petit und Gebr. Edelbrock wurde jedenfalls mit der Lieferung von zwei neuen Glocken beauftragt.
Die Lebensdauer der Glocken in Weseke und Ramsdorf wurde in späteren Jahren durch zwei Kriege deutlich verkürzt. Die Bronze, die immer so schöne Klänge aus der Kirche hervorgebracht hatte, musste zu Rüstungszwecken verwendet werden und wurde somit von den Kirchtürmen gehievt.
In dem Buch „Die Familie Voigt 1729-1827“ von John Schraven (2007) sind die letzten berufstätigen Jahre von Christian Wilhelm Voigt nachzulesen: „Sie sollten wissen, dass unser Glockengießer mittlerweile sechsundsiebzig Jahre alt war und die Qualität des Gießens nachließ“.
Voigt stand eigentlich am Ende seiner Karriere und goss 1777 seine letzten beiden Glocken für die St. Viktor Pfarrkirche in Dülmen und die St. Andreas Kirche in Hullern.